Internationales Symposium zur universitären, schulischen und außerschulischen künstlerischen Bildung als Ressource individueller und gesellschaftlicher Entwicklung.

Vom 8. bis 10. Oktober 2003 im Museum für Neue Kunst | ZKM Karlsruhe und in der Akademie Schloss Rotenfels, Gaggenau/Bad Rotenfels. Eine Kooperation der Internationalen Gesellschaft der Bildenden Künste (IGBK) und der Landesakademie für Schulkunst, Schul- und Amateurtheater Schloss Rotenfels. In Zusammenarbeit mit dem Museum für Neue Kunst | ZKM Karlsruhe sowie der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ), dem Bund Deutscher Kunsterzieher (BDK), dem Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen (BJKE) und der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren.


Mapping Blind Spaces

 

KARTOGRAPHIERUNG BLINDER FLECKEN
Zusammenfassung von Carl-Peter Buschkühle
 

"Mapping Blind Spaces – Neue Wege zwischen Kunst und Bildung". Unter diesem Titel fand vom 8. bis zum 10. Oktober 2003 im Museum für Neue Kunst im ZKM Karlsruhe sowie an der Landesakademie Schloss Rotenfels ein internationales Symposium zur künstlerischen Bildung statt. In seiner Eröffnungsrede legte Joachim Kettel, der Hauptinitiator der Veranstaltung, deren Zielsetzung dar. Es sollte darum gehen, in der gegenwärtigen Bildungsdebatte, die die Bedeutung des Künstlerischen weitestgehend ignoriert, die Chancen, Strategien und Kompetenzen, die eine künstlerische Bildung beinhaltet, herauszuarbeiten und in die Bildungsdiskussion einzubringen. Ingrid Merkel, Leiterin der Landesakademie für Schulkunst, Schul- und Amateurtheater auf Schloss Rotenfels und Mitorganisatorin der Tagung, stellte gleich zu Beginn der Tagung fest, daß die Basiskompetenzen der PISA-Studie angesichts der allgegenwärtigen Ästhetisierungen in unserer Kultur dringend der Ergänzung und des Korrektivs bedürfen. So sei die Fähigkeit, Bilder lesen zu können als eine basale Kulturfähigkeit in der Medienkultur anzusehen.

Das Programm des Symposiums war umfangreich und vielgestaltig. Bereits die verschiedenen Themenschwerpunkte und die variantenreiche Struktur der Tagung ließen erkennen, dass es sich bei der Frage nach der gegenwärtigen Gestalt und der aktuellen Bedeutung künstlerischer Bildung um ein komplexes Feld handelt. Joachim Kettel wollte mit dieser Veranstaltung ausdrücklich eine Vielfalt an relevanten Perspektiven und Vernetzungen deutlich machen. So waren neben Fachvertreter*innen, Wissenschaftler*innen aus der Soziologie, der Pädagogik und der Kulturtheorie eingeladen. Es sprachen bildende Künstler*innen, die in Projekten gesellschaftlicher Intervention engagiert sind, es diskutierten Verbandsvertreter*innen aus dem Bereich kultureller und sozialer Bildungsinstitutionen mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft. Ein Gesprächsabend war der Vorstellung von Konzepten und Modellprojekten künstlerischer Bildungsarbeit in Ganztagsschulen gewidmet. Neben Versuchsschulen aus Baden-Württemberg, in denen Kunst eine Leitfachfunktion erhält, stellte Hans-Georg Mehlhorn die Arbeit seines Leipziger Modells der kreativen Schule vor.

Wie bereits beim ersten Symposium zur künstlerischen Bildung vor zwei Jahren in Heidelberg und Rotenfels war ein Tag der Workshoparbeit gewidmet. In den Ateliers und der Umgebung von Schloss Rotenfels boten jeweils Teams von drei Dozenten Einführungen und experimentelle Arbeit zu unterschiedlichen Verfahren und Themenstellungen künstlerischer Projekte an. Die Palette reichte von der Untersuchung traditioneller Medien wie der Zeichnung über performative Weisen des Lehrens und Lernens bis zu Erprobungen des Selbstausdrucks mit digitalen Medien. Es wurden künstlerische Methoden der Naturforschung erkundet, die Architektur zum Gegenstand plastischer Aktion gemacht oder die Störung als Methode in künstlerischen Vermittlungsprozessen untersucht.

Die Tagung diente nicht nur der Öffnung des Blicks auf die Vielfalt an möglichen Ansätzen, Methoden und institutionellen Verankerungen künstlerischer Bildungsprozesse, sondern auch der Verständigung über die Inhalte dessen, was unter dem Begriff der künstlerischen Bildung zu verstehen sei. Die des öfteren in Debattenbeiträgen zu verzeichnende Begriffsvermischung mit ästhetischer Bildung machte die Notwendigkeit von Klärungen deutlich. Künstlerische Bildung ist keineswegs ein beliebiger Begriff, sondern die Bezeichnung eines spezifischen Paradigmas gegenwärtiger kunstpädagogischer Entwicklung. Sie verfolgt die Intention, kunstpädagogische Prozesse als künstlerische Denk- und Handlungsprozesse zu begreifen und sie als solche zu initiieren. Zugrunde liegt, wie Günter Regel deutlich machte, ein erweiterter Kunstbegriff, wie er insbesondere von Josef Beuys entwickelt wurde, und der Bezüge zur Lebenskunst aufweist, wie sie etwa vom Berliner Philosophen Wilhelm Schmid entwickelt wird. Ziel ist es, so Regel, Kreativität als das eigentliche Kapital des Menschen zu fördern.

Diese Kreativität drückt sich aus in der Fähigkeit zu komplexen Denkprozessen, die nicht einseitig auf bestimmte, wettbewerbstaugliche Kompetenzen eingeschränkt sind, sondern Rationalität mit emotionalem und intuitivem Denken verbinden. Regel erwartet davon die Schulung von Erlebnisfähigkeit und die Ausbildung von Werthaltungen, die bedeutsam sind für die ganzheitliche Entfaltung einer Persönlichkeit, welche in der Lage ist, selbstbewußt und verantwortlich am sozialen Leben teilzunehmen. Kernelement künstlerischer Bildung ist dabei der Gestaltungsprozeß. In der Form themenorientierter künstlerischer Projekte integriert er intellektuelle Auseinandersetzungen mit differenzierten Wahrnehmungsleistungen, fördert er experimentelles Arbeiten und entwickelt die Fähigkeit der Imagination. Diese bezeichnete der Soziologe Heiner Keupp als Basis für die Möglichkeit einer eigensinnigen Lebensführung in einer fluiden, in permanenter Bewegung und Veränderung befindlichen Gesellschaft. Die Schulung der Imagination als "Möglichkeitssinn" stellt nach seiner Überzeugung eine entscheidende Qualifikation dar in einer Kultur, in der das Überschreiten von Grenzen, die Auseinandersetzung mit Neuem, das Herstellen von Zusammenhängen zwischen heterogenen Elementen grundlegende Herausforderungen für das Subjekt geworden sind.

Der Pädagoge Edmund Kösel warf in diesem Zusammenhang der gängigen Didaktik ein mechanistisches Input-Outputdenken vor. Sie vernachlässige dabei die inzwischen auch von der Hirnforschung längst bestätigte Bedeutsamkeit der Autopoiesis beim Lernen. Eine entsprechende Didaktik muß Faktoren wie Subjektivität und Prozeßhaftigkeit berücksichtigen und Wert legen auf Selbstorganisation und Selbstreferentialität des Lernens. Für das künstlerische Lernen eröffnet sich nach seiner Auffassung hier "eine tolle Spielwiese", die Realität und Imagination in Verbindung bringt und auf diese Weise die Fähigkeit zu hypothetischem Denken fördert.

Das Leitmotiv des künstlerischen Menschen muß dabei nach den Worten des Wiener Philosophen Gerald Raunig mehr beinhalten als eine neoliberal gewendete "Flexibilitätsavantgarde". Er verlangt, Freiräume zu etablieren, in denen der hegemoniale Diskurs des Ökonomischen durchbrochen wird. Die Schule wäre ein solcher Raum, sofern sie sich nicht der Vermittlung performativer Kompetenzen allein verschreibt. Hanne Seitz betonte in diesem Zusammenhang die Kunst als "Differenzsystem". Ähnlich wie Wolfgang Zingll von der österreichischen Künstlergruppe "Wochenklausur" plädierte sie für eine Verschiebung der Gestaltungsarbeit vom Formalen hinüber ins Reale. Hier zeichnet sich eine Grenzüberschreitung im Anspruch und in den Möglichkeiten künstlerischer Bildungsprojekte ab. Im Unterschied zur bisherigen Fachdiskussion, der Seitz ein Leiden am "Tellerrandsyndrom" vorwirft, können künstlerische Projekte aus der Schule hinein in gesellschaftliche und kulturelle Kontexte wirken. Gegenwartskunst, die den Gedanken der sozialen Plastik weiterentwickelt, geht diesen Weg schon seit geraumer Zeit.

Beispiele für künstlerisches Handeln im sozialen Umfeld gab Zinggl aus dem Arbeitsfeld der "Wochenklausur". Daß selbstreferentielles Lernen in künstlerischen Gestaltungsprozessen kein konfliktloser Weg zur Ausbildung selbstbewußter und selbstverantwortlicher Persönlichkeit ist, machte schließlich Karl-Josef Pazzini mit einem Blick auf psychologische Aspekte deutlich. Kunst eröffnet die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit den eigenen Phantasmen. Deren Darstellung stößt jedoch an Grenzen und entzieht sich damit auch letztlich der pädagogischen Machbarkeit. Aber gerade dadurch, so Pazzini, wird diese Arbeit pädagogisch wirksam. In der Erfahrung der Nichtübereinstimmung und der Grenzen der Darstellbarkeit tritt das Subjekt in Erscheinung.

Die Fülle der vorgestellten und diskutierten Inhalte, Perspektiven und potentiellen Vernetzungen künstlerischer Bildung, die das dichtgepackte Tagungsprogramm eröffnete, läßt sich mit diesen schlaglichtartigen Darstellungen nur andeuten. Man darf auf die für den Frühsommer von Joachim Kettel geplante Publikation gespannt sein. Hier werden sich abzeichnende Kontexte und Kontroversen, Ansprüche und innovative Impulse noch einmal nachzulesen sein und auf diese Weise, so ist zu wünschen, ihre Wirkung entfalten. Die Zeit für eine deutliche Profilierung der Potenzen und Eigenschaften des Künstlerischen als eines genuinen, einzigartigen Bildungsprinzips ist reif. Was sich in den Künsten seit den sechziger Jahren an Entgrenzung des Kunstbegriffes hin zu pädagogischen und sozialen Wirkungen entwickelt hat, trifft sich in der gegenwärtigen Diskussion mit Positionen der Soziologie, der Erziehungswissenschaft und der Kulturphilosophie. Es trifft zugleich auf eine Bildungsdebatte, die, angestoßen durch die PISA-Studie, einerseits wiederum in eine Schieflage hinsichtlich der Bildungsziele zu geraten droht.

Andererseits gab die Tagung seitens der Politik hoffnungsfroh stimmende Signale. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung förderte das Symposium mit dem ausdrücklichen Wunsch, Beiträge, die künstlerische Bildung im Hinblick auf die Entwicklung von Ganztagsschulmodellen leisten kann, zu diskutieren. Hans Konrad Koch, Ministerialdirigent des Bundesministeriums, forderte in seinem Grußwort noch einmal ausdrücklich zur Einbringung von entsprechenden Positionen in die laufende Debatte auf. Dieses forderte auch Karin von Welck, die Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder. Bei dieser Gelegenheit wies sie darauf hin, daß die Musik hinsichtlich ihrer Positionierung in der Bildungspolitik eine bessere Lobbyarbeit leiste als die Kunst. Das Symposium in Karlsruhe und Rotenfels setzte markante Akzente, die die bildungspolitische Wahrnehmung und Positionierung der Kunst befördern können.
(BDK-Mitteilungen, Heft 1/04)

Publikation zum Symposium
 
Joachim Kettel, Internationale Gesellschaft der Bildenden Künste (IGBK),
Landesakademie Schloss Rotenfels (Hgg.)
 
KÜNSTLERISCHE BILDUNG NACH PISA
Beiträge zum Internationalen Symposium 'Mapping Blind Spaces – Neue Wege zwischen Kunst und Bildung'. Museum für neue Kunst im ZKM I Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe und Landesakademie Schloss Rotenfels 08.-10.10.2003
 
Artificium, Schriften zu Kunst, Kunstvermittlung und Denkmalpflege, herausgegeben von Kunibert Bering, Bd. 18, 1.Auflage 2004, 464 Seiten, 262 schwarzweiße Abb.
Format 28,7 x 22 cm, ISBN 3-89896-205-9, Engl. Broschur, 25,50 €